Sonntag, 21. Juni 2009

Ein Gespenst geht um in Deutschland


Sicherheit! Kontrolle! Um jeden Preis, komme was da wolle.

Rasen betreten verboten! Überwachung. Kameras, Zäune, Schranken, Ausweiskontrollen, Ausgangssperren (okay, das ist Stufe 2). Handschellen für alle. Fenster verrammeln! Zensiert das Internet, oder wir werden alle zu pädophilen Bombenbauern! Vorschriften! Mehr Vorschriften! Noch härtere Vorschriften! Die Urheberrechts-Piraten gefährden die Existenz der Industrie. Verklagt alle und jeden! Baut mehr Gefängnisse. Bringt die Wasserwerfer und Metallkäfige aus Heiligendamm. Alles Terroristen! Besonders die Kinder, die Amokläufer, die mit "Killerspielen" das Zielen trainieren (grandioses Beispiel für Manipulation durch Massenmedien, übrigens, Ansehen ist Pflicht falls noch unbekannt!). Ermächtigt das BKA!

Schäuble, God, and no quarter!

Alles in Ordnunkk! Hurraaaaah!


Sicherheit? Wirklich? Fragt sich nur für wen.

Ich fühle mich eingeengt und drangsaliert, weiter nichts. Ich bin hinreichend sicher dass ich an jeder Sperre vorbeikomme, die unsere liebe Regierung sich einfallen lässt, das heisst ich brauche mir um unzensierte Informationen eigentlich keine Sorgen machen. Eigentlich betrifft mich das ganze persönlich überhaupt nicht, zumindest bis S-Tunnel, VPNs und Anonymisierungsnetzwerke verboten werden. Und dann packt man die Trickkiste aus. Ich bin über 18 und darf die meisten Dinge denn letzten Endes doch, wenn es auch mehr Aufwand erfordert, weil ich beispielsweise mein neues Spiel in England kaufen muss, da man in Deutschland nur die verkrüppelte BPjM-Version (noch so ein Hassthema) bekommt.

Und dennoch... es fühlt sich an, als würde man ganz langsam in eine Plastikplane eingewickelt werden und könne nicht mehr richtig atmen, und sich nicht mehr rühren. Und man lebt ja nicht isoliert; wenn alle so drauf sind wie die Regierung kann man nur noch auswandern. Nur... wohin denn bloß? Hat mal eben jemand ein Raumschiff? Auch wenn das jetzt etwas melodramatisch kommt: so langsam kann ich den Song hier echt verstehen. Ob das wohl schon beginnende Paranoia ist?

Ich fühle mich hierzulande auch nicht mehr wirklich sicher (und das nicht weil ich Kinderpornos sehen will, kostenlos Filme oder Musik saugen will, oder übermäßig Killerspiele zocke -- die meisten Ego-Shooter finde ich totlangweilig, meine Spiele, DVDs und CDs kaufe ich mir, danke der Nachfrage, und nope, ich bin nicht pädophil). Ich fühle mich spätestens seit Donnerstag abend nicht mehr sicher, seit die große Koalition dieses infame Sperrgesetz durchgewunken hat, und selbst bei den Grünen ein Drittel aller Abgeordneten sich der Stimme enthalten hat, um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen, dass das Gesetz zwar technisch ein Graus ist, aber seine Intention ja im Prinzip in Ordnung. So habe ich das Statement zumindest verstanden. Danke Frau Deligöz, das Gesetz ist also "zudem technisch unzureichend, nicht sachgerecht und zu wenig spezifisch auf die Notwendigkeiten im Kampf gegen Kinderpornographie und sexuelle Ausbeutung von Kindern in Kommunikationsnetzwerken ausgerichtet", aber man kann es nicht geradeheraus ablehnen, weil ... yadda, yadda, yadda? Sorry, Sie sind unwählbar, und ziemlich peinlich. Die Schere im Kopf am Werk, und keine Ahnung wovon man redet.

Da prasseln einem momentan im Salventakt neue Meldungen darüber um die Ohren, welcher Vollspakk jetzt schon wieder ein neues Verbot fordert, ohne dass irgendein vernünftiger Mensch einen Grund dafür sehen könnte. Ok, es ist Wahlkampf, aber es ist auch sehr merkwürdig, dass Herr Schäuble sich aus der Debatte um Internetsperren gegen Kinderpornos mehr oder weniger -- und vollkommen untypisch -- heraushält, und bevor die Leiche des Art. 5 Abs. 1 GG kalt ist kommt sein Schwiegersohn daher, und fordert eine Ausweitung der Sperren auf "Killerspiele", die ja auch verboten werden sollen. Die SPD will die Sperren über ganz Europa verbreiten. Musik-, Spiele- und Filmindustrie stehen auch schon Schlange. Ach ja, und sperren wir rechtsradikale und radikalislamische Inhalte. Die BPjM soll einen Spieleversender in Österreich indizieren, der online verkauft, und zwar nur, wenn der Käufer über ein Konto oder eine Kreditkarte verfügt, was bei den meisten 12-jährigen kaum der Fall sein dürfte. Und wenn es doch mal der Fall sein sollte, dann sollten sich verf**** nochmal die Eltern darum kümmern, was ihre Sprößlinge so mit ihrem Konto und ihrem Computer anstellen, anstatt selber lieber DSDS zu glotzen und nach staatlicher Kontrolle zu rufen als sich um ihre eigene Verantwortung zu kümmern.

Führende Politiker benutzen ihre Beziehungen selbst zu ihren Ehepartnern, um ihre Position voranzubringen (Krogmann ist mit einem Bild-Chefredakteur verheiratet, Guttenbergs Frau mischt bei Innocence in Danger mit, etc.). Die SPD-Führung knüppelt einen Antrag in den eigenen Reihen auf dem Parteitag letzten Sonntag einfach mal mit der Begründung nieder, diese Diskussion wäre "medial unerwünscht", obwohl alles was der nicht ossifizierte, und nicht geriatrische Teil der SPD wollte, war, den anderen noch einmal zu erklären warum Zensur nicht gut ist, und sie zu bitten das Zensur-Gesetz nicht mitzutragen. Und am nächsten Tag ist der Antragssteller "Verlierer des Tages" in der Bild. Während kurz darauf Ursula von der Leyen "Gewinnerin des Tages" ist, mitsamt dem Tag "Frauenpower". Gut, dass Politik ein widerliches, schmutziges Geschäft ist hat man ja abstrakt schon lange vermutet, aber derart offen und ungeniert vorgelebt hat man das bisher nicht bekommen. Wenn man das nicht zum kotzen findet, braucht man eine Moralprothese.

Das muss man sich mal geben: ich fühle mich von Terroristen wesentlich weniger bedroht als von meinem eigenen Staat, und meinen gewählten Volksvertretern und ihren Handlangern und Puppenspielern. Das Gefühl ist noch auszuhalten, aber ich komme mir momentan vor wie eine Cartoonfigur, die irgendwohinläuft, krach, ein Stahlträger fällt vom Himmel, sich umdreht, boinngggg, sie bekommt einen Rechen vor den Kopf geknallt, zurücktaumelt... sie fällt in eine Grube. Sie klettert wieder raus... da rast ein Auto auf sie zu.

Und das ist nur die Spitze des Eisbergs: dieses bornierte, vernagelte, engstirnige, sicherheits- und regelvernarrte Denken zieht sich quer durchs ganze Volk; wir waren gestern auf einer Grillparty, und ich habe dort eine alte Bekannte wiedergetroffen, die, sagen wir mal, recht konservativ ist. Als es damals um die Vorratsdatenspeicherung ging, meinte sie, sie hätte ja nichts zu verbergen und wenn es gegen Terroristen hilft, ist das doch okay. Und gestern war ihre ursprüngliche Meinung zum Zensurgesetz ein uninformiertes "ist doch gegen Kinderpornos, und damit gut... und die Gegner wollen doch sowieso nur ein rechtsfreies Internet". Ich hoffe mal, wir haben ihr klarmachen können dass dem nicht so ist. Ich muss auch zu ihrer Ehrenrettung sagen, dass ihr das Internet ziemlich egal ist. Aber scheinbar denkt der Großteil der Bevölkerung so.

Aber selbst diese Bekannte hat sich gestern über das übersteigerte Sicherheitsbedürfnis beispielsweise bei Eltern lustig gemacht. Ich kannte den Text noch nicht, aber von "Wir waren Helden" hat sie mir erzählt (okay, ich habe mir 1983 meinen ersten Computer -- von meinem Geld -- gekauft, und vorher schon bei einem Kumpel mit einem TI-99/4A rumgespielt... hey, ich bin ein Geek, und stolz darauf; aber ansonsten: full ack zu dem Text). Ein Freund von mir ist Lehrer, und zwar einer von den guten, der seine Schüler (meistens) motivieren kann, Stoff gut vermitteln kann, und auch sonst soziale Kontakte zu seinen Schülern pflegt... und der wurde zum Schulleiter zitiert, weil er es gewagt hat einer Schülerin in einer Klausur 2 Punkte zu geben. Sie hatte genau eine halbe Frage richtig beantwortet. Und die Mutter geht zum Schulleiter und beschwert sich über die Frechheit des Lehrers... und der Schulleiter drängt den Lehrer, seine "Benotung doch noch einmal zu überdenken". Irgendwas läuft hier grundfalsch. Wir sind nicht alle gleich. Wir sollten uns auch nicht gleichschalten lassen.

Ich weiss nicht was da mit uns passiert ist. Aber es ist gruselig.